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Europas „High Noon"

BERLIN – Demokratien neigen dazu, Probleme mit ihrer Sicherheit zu haben. In diesem Zusammenhang hat W.H. Auden die 1930er Jahre ein „niedriges, unehrliches Jahrzehnt“ genannt – eine Beschreibung, die auch für unsere eigene Dekade angemessen erscheint.

Damals wie heute fällt der Politik die Pose leichter als die Überzeugung. Aber um Bündnisse zu schließen, Unterstützung zu bekommen und die internationale Stabilität zu bewahren, ist Überzeugungsarbeit nötig. Die Ukraine ist überlastet und ausgeblutet, und Russland bedroht die Sicherheit des Baltikums und ganz Europas. Deshalb ist diplomatische und strategische Zusammenarbeit wichtiger als jemals zuvor seit dem Ende des Kalten Krieges. Aber obwohl so viel auf dem Spiel steht, wirken die westlichen Politiker schwach und uneinig. In dieser Hinsicht scheinen sie sogar ihre Kollegen aus den 1930ern – den französischen Ministerpräsidenten Édouard Daladier und den britischen Premierminister Neville Chamberlain – zu übertreffen.

So musste der deutsche Kanzler Olaf Scholz für seine verworrene, zusammenhanglose Erklärung, warum er keine Taurus-Raketen an die Ukraine liefern will, massive Angriffe seiner eigenen Koalitionspartner über sich ergehen lassen. Noch zu Beginn des Krieges hat er eine bemerkenswerte Rede gehalten, in der er von einer historischen „Zeitenwende“ sprach. Aber danach hat er größtenteils so weiter gemacht wie bisher. Manchmal scheint es, als sei die einzige Politikerin, die ihn verteidigt, die rechtspopulistische und russlandfreundliche Alice Weidel.

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